Mein Smartphone meldet mir spät-sommerliche Temperaturen an diesem Mittwoch im Oktober. Heute bin ich mit Timo zum Gespräch verabredet. Bis dato kannte ich ihn nur über Instagram und die wenigen WhatsApp-Nachrichten, die wir uns rund um das Interview schrieben. Es ist bereits kurz nach 15.00 Uhr, als er an der Tür klingelt. Timo ist knapp unter 1,80m groß und 25 Jahre alt. Die Jacke, die er trägt, ist ungleich kariert in dunklen Farbtönen mit vielen abstrakten Mustern; darunter ein horizontal blau-weiß gestreiftes Hollister-T-Shirt. Auf den Schultern trägt er einen geräumigen Rucksack. Nach einer kraftvollen, aber herzlichen Umarmung zeige ich ihm den Weg ins Studio.
Inhaltsverzeichnis
Das ist Timo Schniering.
Leon: Hey, schön, dass du unser Gast bist! Stelle dich vor.
Timo: Hallo! Mein Name ist Timo Schniering. Ich komme aus Nackenheim; das ist ein kleines Dorf nahe Mainz. Ich habe Film und Animation in Mainz studiert. Mittlerweile bin ich hauptberuflicher Musiker. Meine Musik ist eine Mischung aus Orchestral und Pop. Mit meinen Songs verarbeite ich das, was mich beschäftig oder inspiriert.
Sein Weg in die Musik.
Leon: Wer oder was hat dein musikalisches Interesse geweckt?
Timo: Das war meine Mutter. Sie hat mich als Fünfjähriger in den Klavierunterricht geschickt. Allerdings nervte es mich, nach vorgegebenen Noten spielen zu müssen. Zu der Zeit war ich auch noch im Kinderchor. Mit neun Jahren experimentierte ich erstmals mit einem Notenprogramm für den Computer. Später durfte ich noch ein Praktikum in einem Ton-Studio machen und bin in den Verband deutscher Musikschaffender eingetreten. Mittlerweile habe ich mein eigenes Unternehmen: das Label Cenom. Zunächst habe ich lediglich an anderen Songs mitgearbeitet, ehe ich Anfang 2020 mit meiner Single Wide Wide Wings erstmals als Sänger in Erscheinung trat. Wie viele meiner Songs wird auch Wide Wide Wings von einem Klavier begleitet, womit der Klavierunterricht dann doch mich und meine Musik geprägt hat.
Songs auf Deutsch für die Familie und bei Konzerten.
Leon: Du bist ein deutscher Musiker, aber deine Songs sind größtenteils auf Englisch?
Timo: Ja, das hat zwei Gründe: Einerseits möchte ich mich vom Schlager eindeutig abgrenzen. Andererseits sind mehr als die Hälfte meiner Fans keine deutschen Muttersprachler. Das wäre anders nicht möglich. Für die Familie und auf Konzerten singe ich bestimmte Songs auch auf Deutsch.
Auftritte auf CSDs gehören dazu.
Leon: Achja, wo trittst du denn auf?
Timo: Unter anderem auf CSDs. In der letzten CSD-Saison [2023] war ich in München neben Conchita Wurst oder Marcella Rockefeller Teil des Programms. Dann stand ich noch in Köln oder beim Dorfpride in Nierstein auf der Bühne. Queerness beeinflusst mein Leben und prägt meine Musik. Deswegen sind mir CSDs wichtig: Um zu demonstrieren, aber auch um auf der Bühne meine Message zu verbreiten.
Das war Timos Coming-out.
Leon: Das bringt mich zu der Frage: Wie verlief dein eigenes Coming-out?
Timo: Mein inneres und äußeres Coming-out hatte ich in einem Abstand von einem halben Jahr. Davor sagte ich zu mir selbst: „Ich bin nicht schwul, nein, überhaupt nicht“. Mit 17 Jahren habe ich mich bei meiner Familie geoutet. Die dort guten Erfahrungen angenommen zu werden, haben geholfen, dass ich mit mir anders umgehen konnte, und haben meine weitere Entwicklung im Positiven beeinflusst. Dennoch zögerte ich vor einem Outing in der Schule. Das änderte sich mit meinem ersten Freund. Wir verabredeten uns zum Ende des Englisch-Unterrichts auf dem Schulflur. Als dann die anderen aus den Klassenräumen liefen, küssten wir uns und gingen ohne ein Wort. Eine Freundin hielt mich über Sprachnachrichten auf dem Laufenden. Laut ihr sind Sätze gefallen wie „Ach Gott, das habe ich nie erwartet.“, „Das ist ja unglaublich!“, „Was, der?!“.
Tipps für das eigene Coming-out.
Leon: Hast du Tipps für diejenigen, die noch vor ihrem Outing stehen?
Timo: Ich habe mir viele, sehr viele, Coming-out-Videos auf YouTube angesehen. Wichtig ist, dass ein Outing kein Zeitdruck hat. Du bestimmst, wann und wem du dich anvertrauen möchtest. Fange bei Menschen an, bei denen du dich sicher fühlst und falls doch mal ein Outing blöd verlaufen sollte, sei dir bewusst: An dir ist nichts falsch! Ein guter Zeitpunkt für ein Outing ist, wenn man selbst den Wille hat, es einem kleinen oder großen Kreis zu erzählen, beispielswiese mit dem ersten Freund.
Plüsch-Papagei als Symbol für Mobbing und Depression.
Leon: Der erste Track deines Albums Memories ist What Makes Me Me. Eine zentrale Figur in dem Musikvideo ist ein Papagei-Kuscheltier. Das wird einem Jungen geklaut. Ein anderer Junge wirft und tritt den Papagei dann durch die Gegend. Ist der Papagei ein Symbol?
Timo: In dem Song singe ich über meine Erfahrungen mit Mobbing. Am heftigsten war es in der fünften und sechsten Klasse. Ein Neuntklässler mobbte mich. Mit seiner Clique lauerte er mir auf dem Weg zur Schule und nach Hause auf und bespuckte mich. Dann hat er noch mich oder gegen meine Sachen getreten. Das Mobbing verursachte bei mir eine depressive Phase. Du musst wissen, dass die Pubertät bei mir erst mit 14 Jahren so richtig einsetzte. Dennoch wurde ich schon vorher von außen wegen meiner hohen Stimme oder meines „Verhaltens“ als schwul beleidigt, weshalb man nichts mit mir zu tun haben dürfe. Vielleicht ist es dir aufgefallen, dass der Song mit den Worten You act like a girl beginnt. Es ging so weit, dass sich ein guter Freund von mir distanzierte, weil seine Mutter es im befohlen hatte. Sie ist Pädagogin.
Das Musikvideo ist meine Bachelor-Arbeit und der Plüsch-Papagei ist ein Replikat meines eigenen. Ich wollte nicht, dass sich Kinder für den Dreh schlagen müssen. Außerdem: Wer schlägt ein Kuscheltier? Das muss schon schlimm sein. Zum Ende des Musikvideos geschieht ein Zeitsprung und der frühere Mobber gibt den Plüsch-Papagei zurück, den er über Jahre aufbewahrt hat.
Mit Flamekeeper zum ESC.
Leon: Du möchtest also Deutschland beim ESC 2024 in Malmö vertreten. Was bedeutet der ESC für dich?
Timo: Den ESC verfolge ich im Fernsehen seit Lena 2010 mit Satellite gewonnen hat; damals mit meiner Oma und nun auch gerne mit meinen Freunden beim Public Viewing. Für mich ist der ESC eine große Feier, die zeigt, dass Musik keine Grenzen hat und kennt. Ein Beispiel ist Chanel. Sie ist 2022 mit SloMo für Spanien angetreten. Das war das Jahr, als Duncan Laurence mit Arcade für die Niederlande gewonnen hat. SloMo war sicherlich kein überragender Song, aber in Kombination mit der Performance der Sängerin dachte ich mir: „OMG. Sie singt ja live und sie hat Bewegungen drauf und eine Performance hingelegt. Da musst du trainieren.“
Mein Song für den ESC heißt Flamekeeper. In den Song sind viel Leidenschaft und Emotionen geflossen. Ob’s reicht, um Deutschland beim ESC in Schweden vertreten zu dürfen, wird sich zeigen.
Hinweis: Der Beitrag ist im Rahmen einer Prüfungsabgabe für das Modul Textwerkstatt III des Studiengangs Online-Journalismus an der h_da im dritten Semester entstanden. Die Arbeit wurde mit der Note 1,3 bewertet, sodass ich guten Gewissens den Beitrag hier veröffentlichen kann. Als Textvorlage diente ein Interview, das ich für das Queer-Magazin Ganz schön queer beim nicht-kommerziellen Lokalfunk Radio Darmstadt führte.
© Leon Ebersmann