Anne-Kathrin Lind ist seit über fünf Jahren hauptamtliche Sozialpädagogin im KUSS41. Das KUSS41 ist ein Ort der Begegnung für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 27 Jahren in Frankfurt nahe der Konstablerwache. Dahinter steckt die AIDS-Hilfe Frankfurt e.V. (AHF). Im Gespräch verdeutlicht Lind die Notwendigkeit solcher Angebote, was das KUSS41 für seine Besucher:innen zu bieten hat und weshalb trotz der Selbst- und Fremddarstellung die Türen für alle geöffnet sind.

Warum braucht die Community Safe Spaces?

Mittlerweile erkenne die Community das KUSS41 als queeren Treffpunkt an. Lind erzählt von einer großen Fensterfront und kreisrunden Flaggen mit passender Beschriftung wie trans*, inter*, lesbisch, bisexuell oder schwul. Früher sei die Gestaltung unscheinbarer gewesen. Wer möchte, kann hier den Tag im Offenen Café nach Belieben gestalten: Sei es chillen, basteln, gemeinsam Pizza backen oder an einem Workshop zur Selbstverteidigung teilnehmen. Unter diesem Aspekt ist das KUSS41 ein Jugendzentrum wie jedes andere. Dennoch bräuchten queere Jugendliche spezielle Orte, um sich mit Gleichgesinnten austauschen zu können. Orte, an denen sich Heranwachsende ausprobieren dürfen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Insbesondere für Heranwachsende, die aufgrund ihrer Sexualität oder Geschlechtsidentität bereits Mobbing erfahren haben, sind Safer Spaces ein bedeutsamer Rückzugsort. Andere haben Angst vor einem Outing, weil sich Familienangehörige beispielsweise beim Schauen einer Liebesszene zwischen zwei Männern queerfeindlich äußerten. In Anbetracht dessen, dass die Gewaltbereitschaft gegenüber Queers zunimmt, hat das KUSS41 noch nicht ausgedient; auch wenn Anne-Kathrin Lind diesen Zustand als wünschenswert bezeichnet.

Das Programm des KUSS41

Was das KUSS41 von anderen Jugendzentren abhebt, ist der queere Schwerpunkt im Programm.

Einmal monatlich können asexuelle oder aromantische Jugendliche im A*-Treff unter sich sein. Im 14-Tage-Rhythmus gibt es ein gesondertes Angebot für alle, die sich dem trans*, inter* oder nicht-binären Spektrum zuordnen. Auf Nachfrage, wie das KUSS41 alle Menschen willkommen heiße, ohne seine Stellung als Safer Space zu verlieren, argumentiert Anne Lind mit ihrem Arbeitsalltag. Weder sie noch ihre Kolleg:innen werden jemals das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung der Besucher:innen abfragen. Außerdem widerspricht es den Grundsätzen des KUSS41, wenn vermeintlichen cis1-hetero Jugendlichen die Möglichkeit genommen wird, sich frei zu entfalten. Allerdings verlangt die Stadt Frankfurt von allen offenen Angeboten einmal jährlich eine anonyme Besuchendenzählung. Dabei stellte sich heraus, dass der Anteil von cis-hetero Jugendlichen verschwindend gering ist. Ebenso weiß man durch die sich wiederholende Datenerhebung, dass das Offene Café an einem Freitagabend vor der COVID-19 Pandemie bis zu 80 Besucher:innen hatte; derweil seien es bis zu 50 Menschen. Das Offene Café am Dienstagabend zählte bis zu 40 Gäst:innen; nun seien es knapp 30 junge Erwachsene.

Angebote für Eltern

Für Eltern ist das einzige Angebot die Elternberatung. Vor der Corona-Pandemie gab es ein Eltern-Café zum Austausch von Eltern queerer Kinder untereinander. Mangels Nachfrage pausiert dieses Angebot momentan.

Die Angst vor dem ersten Mal

Das Team ist sich bewusst, dass der Schritt über die Türschwelle neben der bunt-gestalteten Fensterfront viel Überwindung bedeuten kann. Sei es durch (un)mittelbar erlebte oder internalisierte2 Queerfeindlichkeit sowie innere Hürden, sich als Neuling einer bestehenden Gruppe anzuschließen. Für Letzteres sollen die monatlich samstags stattfindenden Einstiegstreffen eine Lösung sein. Hier sind alle das erste Mal im KUSS41 unterwegs. Wer nicht warten möchte, kann den Besuch bei den Mitarbeiter:innen ankündigen oder den Abholservice nutzen. Von einem vorher vereinbarten Treffpunkt an der Konstablerwache kann dann gemeinsam zum Jugendzentrum gelaufen werden. Lind berichtet, dass der Abholservice durchschnittlich einmal innerhalb von 14 Tagen genutzt wird. Eine weitere Option ist, im Duo mit einer Person aus dem eigenen Freundeskreis vorbeizukommen. Allies (engl.: Verbündete), die nicht queer sein müssen, aber der queeren Community “schützend unterstützend” zur Seite stehen, dürfen bleiben. Wer bereits bei den Eltern geoutet ist, darf sich ebenso von ihnen ins KUSS41 begleiten lassen. Diese sollten nach wenigen Minuten wieder gehen. Allgemein möchte Anne-Kathrin Lind den Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Angst vor dem ersten Besuch nehmen. Sie hebt hervor, dass alle irgendwann in der Vergangenheit ihren ersten Besuch im KUSS41 durchlebt haben. Demnach kennen sie die Situation und reagieren „willkommen-heißend“ auf neue Personen. Falls das im Ausnahmefall nicht funktionieren sollte, hilft das KUSS41-Team beim Finden einer Clique.

Interessierte Jugendliche und junge Erwachsene finden alle Ansprechpersonen inklusive Kontaktmöglichkeit auf der Website des kuss41.de. Das aktuelle Programm kommuniziert das Jugendzentrum über seinen Instagram-Account.

Sich als Ally outen

Zusätzlich gibt Anne-Kathrin Lind einige Tipps, wie die queere Community außerhalb von Einrichtungen wie dem KUSS41 unterstützt werden kann. Am wichtigsten sei Offenheit gegenüber queeren Themen und queeren Menschen. Um aus erster Hand die Lebensrealität von Personen zu erfahren, sollte viel häufiger mit statt über Menschen gesprochen werden. Durch offen gestellte Fragen wie “Bist du in einer Beziehung?” oder “Hast du einen Freund oder eine Freundin?” können sich Familie, Verwandte, Freund:innen, Kolleg:innen und lose Bekanntschaften indirekt als Ally outen.

1Wer sich als cis bezeichnet, identifiziert sich mit dem Geschlecht, dass ihm:ihr bei der Geburt zugeordnet wurde.

2Internalisierung beschreibt die Aneignung und Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte. Bei internalisierter Queerfeindlichkeit gibt es Vorbehalte gegenüber der eigenen Queerness.

Hinweis: Als Textvorlage diente ein Interview, das ich für das Queer-Magazin Ganz schön queer beim nicht-kommerziellen Lokalfunk Radio Darmstadt führte. Das Interview mit Anne-Kathrin Lind kannst du auf allen bekannten Podcast-Plattformen hören oder höre die Podcast-Episode bequem im Webplayer.

Von Leon