Das Bild zeigt viele bunte Spielsteine; eine Community. Die meisten Holzfiguren sind ohne Gesicht, doch ein paar haben eine Mimik aufgedruckt.

Die Community will mitreden! Will die Community mitreden?

Es ist Sommer.

In der einen Hand hältst du dein Smartphone, mit der anderen öffnest du den Kühlschrank, schnappst dir ein kaltes Bierchen und setzt dich auf die Veranda. Du hörst bereits das Zirpen der Grillen. Im Hintergrund dudelt das Radio: Blue Moon auf Radio Fritz mit Claudia Kamieth. Sie faselt irgendetwas von Thema und lädt dich ein, anzurufen, um live im Radio zu sprechen. Bist du dabei?

Stellt man die Frage elf – als sonst sehr mitteilungsbedürftig geltenden – Moderator:innen und Journalist:innen sind die Aussichten für Call-In-Formate düster. Woran das liegt: Radio ist für uns zum Alltag geworden. Wir wissen bereits wie ein Radiostudio aussieht, was all‘ die bunten Lämpchen bedeuten und wie es funktioniert. Doch die Hörer:innen?

Problem: Wir sind abgehoben!

Es kommt viel zu häufig vor, dass die Hörer:innen bei Entscheidungen außen vor gelassen werden. Doch dabei sind die Leser:innen einer Zeitung, die Zuschauer:innen im Fernsehen und die Hörer:innen im Radio diejenigen, die wir mit unseren Inhalten erreichen möchten.

Nur für das Publikum machen wir Programm. (Schiwa Schlei, Tutzinger Radiotage 2022)

Warum also nicht den interessierten Menschen einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen und ihre Themen ins Programm bringen?

Die Lösung: Wie Call-In nur anders!

Sobald Redaktionen (und der ganze Sender) das Problem erkannt haben, ist die Lösung nach Jahren der Pandemie gleichermaßen trivial wie herausfordernd: Eine Online-Konferenz. Doch an diesem Punkt lohnt sich ein Schritt zurück ehe man einen Schritt vorwärts macht.

Online oder Präsenz?

Während den Vorbereitungen auf den Beitrag wollte ich die Frage mit einer schlichten Pro- und Kontra-Liste für beide Optionen anschaulich darstellen. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich die Argumente nur schwer einsortieren lassen. Warum? Während das Community-Format Teil unserer Arbeit ist, dürfen wir nicht vergessen, dass alle Teilnehmer:innen des Angebots das in ihrer Freizeit erledigen müssen. Daher wird sich ein:e alleinerziehende:r Mutter :Vater den Spaß mittwochs zwischen 12:00 Uhr bis 13:00 Uhr nicht erlauben können. Außerdem darf Zeit für An- und Abreise nicht außen vor gelassen werden. Ein gebürtiger Stuttgarter wird wahrscheinlich nicht das Mitmach-Angebot vom NDR in Hamburg wahrnehmen. Dann online?

Leider sind Online-Angebote auch nicht gänzlich barrierefrei. Zwar entfällt hier die Anreise, sodass ein Berliner Student, der sein Auslandssemester in Irland verbringt am Community-Format des hr teilnehmen kann, doch auch er darf mittwochs zwischen 12:00 Uhr bis 13:00 Uhr keine weiteren Verpflichtungen haben. An diesem Punkt verzichte ich, darauf hinzuweisen, dass Online-Konferenzen ein Smartphone, Tablet oder einen Computer sowie eine stabile Internetanbindung voraussetzen. Außerdem setzen die Sender womöglich auf externe Dienstleister, wobei man sich vor Beginn noch registrieren muss.

Offenes Studio: „Studio 9 – Der Tag mit…“

Korbinian Frenzel moderiert bei Deutschlandfunk Kultur die Show „Studio 9 – Der Tag mit…“ Im zwei-Wochen-Rhythmus wird im Rahmen dieser Sendereihe das Offene Studio veranstaltet. Vor Beginn der Corona-Pandemie war im Studio Platz für bis zu 20 Teilnehmer:innen. Mittlerweile greift der Sender auf Microsoft Teams zurück. Ob das Offene Studio wieder als Präsenzveranstaltung zurückkehren wird, ist ungewiss. Hier nehmen die Hörer:innen wohl überwiegend wegen des Themas und/ oder des prominenten Gasts an der Konferenz teil. Die Konferenz ist Bestandteil des On-Air-Programms, auch wenn Korbinian Frenzel während der Sendung nur ausgewählte Chat-Nachrichten samt Name vorliest. Erst im Anschluss – bei der Redaktionssitzung – können die Teilnehmer:innen der Online-Konferenz mit dem Studio-Gast sowie dem Team sprechen.

#Mitreden – Das Radioexperiment

Timo Fratz ist Chefredakteur bei Radio Bielefeld. Seit Juli 2021 hat der Sender das Angebot #Mitreden – Das Radioexperiment etabliert. Einmal im Monat spricht er samt Co-Moderation mit den Menschen im Sprachchat, die dem Discord-Server des Senders beigetreten sind. Eine Stunde lang unterhalten sich die beiden mit der Community über ein zuvor bekannt gegebenes Thema. Zuvor arbeitet die Redaktion das Thema wie Zukunft der Pflege durch bspw. Interviews mit Expert:innen auf. Wenn es zeitlich möglich ist, nehmen die Expert:innen selbst an dem Austausch teil. #Mitreden findet sendugsbegleitend statt. Radio Bielefeld sendet währenddessen sein übliches Programm mit dem Unterschied, dass hin und wieder live in den Sprachchat geschaltet wird. Durch Vorwarnung des Teams, wissen alle Bescheid, wann der Austausch nur innerhalb der Gruppe passiert und wann das Gesagte über den Sender gebracht wird.

Warum?

Rational betrachtet lohnt sich der Aufwand für Social-Audio-Formate nicht, wenn man die 100, 130 oder vielleicht auch 150 Teilnehmer:innen der Online-Konferenz den üblichen Einschaltquoten für den Verbreitungsweg über UKW gegenüberstellt. Warum also der ganze Aufwand?

Auch wenn unser Medienzeitbudget über die letzten Jahre gestiegen ist, haben unsere Tage weiterhin nur 24 Stunden. Als Radiosender konkurriert man um das Medienzeitbudget der Menschen mitnichten nur horizontal (=mit anderen Radiosendern), sondern auch vertikal (=mit allen anderen Medien). Daher müssen wir Radio zu einer Marke machen. Es braucht etwas, womit sich die Leute identifizieren können. Manche Sender konnten das bereits durch Begriffe erreichen, die es in den Wortschatz der Menschen geschafft haben (z.B. Sektor im 1LIVE-Sendegebiet) während anderswo die Moderator:innen Kern der Marke sind.

Jeder Sender hat etwas, worauf er Stolz sein kann. (Unbekannt, Tutzinger Radiotage 2022)

Die spannendsten Gespräche im Radio finden statt, wenn die Musik läuft. (Unbekannt, Tutzinger Radiotage 2022)

Demnach eignet sich Social-Audio nur für alteingessenene Angebote?! Falsch! Es muss lediglich ein Mehrwert für die Teilnehmer:innen geschaffen werden. Dafür lässt sich mit der Fear of missing out (FOMO, dt.: Exklusivität) spielen. Die Bandbreite von FOMO-Angeboten ist unendlich: Bei Radio Bielefeld ist es der direkte Austausch mit den Moderatoren während die Musik läuft. Bei Deutschlandfunk Kultur ist es der Einblick in die Redaktionskonferenz. Was ist es bei euch? Wichtig ist, dass sich die Menschen, die für die Teilnahme ihre Freizeit opfern stets wertgeschätzt fühlen. Bei Umfrage im Chat à la „Zuerst das Müsli oder zuerst die Milch?“ – Übrigens, die Antwort darauf ist zuerst das Müsli – unterfordert und langweilt man seine Online-Gäste auf Dauer.

Welt verbessern oder alles anzünden?

Der letzte, aber wichtigste Aspekt kam bislang nicht zu Wort: Will die Community mitreden? Formulieren wir hier nicht vielleicht auch eine Lösung für ein Problem, das unseren Köpfen entsprungen ist, aber für die breite Masse irrelevant ist?

Dazu ein eindeutiges Jein. Es wird Menschen geben, die erkennt man an ihrem Pseudonym bei Discord oder ihrem Klarnamen bei Microsoft Teams. Es wird diejenigen geben, da muss man sich Sorgen machen, wenn sie sich nicht einloggen. Einige werden nur unregelmäßig vorbeischauen, manche verschwinden wieder ehe der Hinweiston über ihre Anwesenheit abklingen konnte während andere zufrieden sind, allein weil sie wissen, dass sie sich am Programm beteiligen könnten.

Dabei müssen Redaktion und Moderation darauf achten, dass der Eventcharakter nicht verloren geht. Wie Cosmo- und 1LIVE-Programmchefin zu Beginn der Tutzinger Radiotage sagte: „Der Sender muss Teil einer Tagesroutine sein.“ Allerdings gelten Events niemals als Routine. Trotz anfänglicher Euphorie müssen sich alle Redaktionen Folgendes eingestehen…

Ein Community-Format ist anstrengend.

Wohingegen zwei, drei, vier Stunden Moderation im Radio per se kein Problem sind, ist bereits eine Stunde Social-Audio körperlich belastend. Das berichteten unabhängig voneinander Korbinian Frenzel (Deutschlandfunk Kultur) und Timo Fratz (Radio Bielefeld, Chefredakteur)

Der Sender muss es wollen.

Solch ein Projekt kann nicht als Einzelkämpfer:in bewältigt werden. Die Sender müssen bei ernsthaftem Interesse direkt die entsprechende (Wo)Men-Power zur Verfügung stellen.

Es muss sich richtig anfühlen.

Die zwei Beispiele zeigten, dass ein Community-Formal sowohl bei Deutschlandfunk Kultur als auch bei Radio Bielefeld zu funktionieren scheint. Allerdings wurden die Formate auf die Eigenheiten und Arbeitsabläufe der genannten Sendeanstalten angepasst. Bei den Fragen Wieso? Weshalb? Warum? konnte der vorliegende Bericht hoffentlich behilflich sein, doch die Frage nach dem Wie? ist eine Einzelfallentscheidung. Immerhin in einem Aspekt sind alle Radiostationen gleich:

Ich drücke einmal auf den Knopf, drehe kurz am Rädchen und dann läuft es. (Timo Fratz im Interview, Tutzinger Radiotage 2022)

Das vollständige Interview mit Timo Fratz und Korbinian Frenzel führte mein Redaktionskollege Timo Thena. Ihr könnt es euch hier direkt anhören:

©Leon Ebersmann

Von Leon